Wie tickt und funktioniert die Finanzbranche in zehn Jahren? Sechs Schreiberinnen und Autoren fokussieren auf 2030 und berichten aus der Zukunft.
Die Arbeitsgruppe "Future Finance" von Swiss FinTech Innovations (SFTI) hat umfangreiche Recherchen und Analysen durchgeführt und zeichnet im Diskussionspapier "Future of Financial Institutions – View 2030" ein klares Bild der treibenden Kräfte und Elemente des Wandels. Dieses Diskussionspapier soll den Gedankenaustausch über die Zukunft des Finanzwesens unterstützen sowie dazu motivieren, Zukunft, Struktur und Basis der Finanzindustrie gemeinsam zu gestalten.
Acht Schlüsselthemen (Keythemes) aufgeteilt in vier Bereiche erachtet SFTI als prägend für die Zukunft der Finanzindustrie:
People (Increased Importance of Trustworthiness / Changing Behavior)
Immediate Environment (The Empowered Digital Customer / Ubiquity of Digital User Interface)
Broader Environment (Explosion in Digital Assets / Explosion in Private Digital Data)
Business Landscape (Changing Business Models / Changing Business Ecosystems)
Die Geschäftsleitungsmitglieder von SFTI stellen diese acht Schlüsselthemen in Zusammenarbeit mit MoneyToday.ch in sechs Kurzgeschichten vor. Heute die Betrachtungen von Cornelia Stengel.
Wir schreiben das Jahr 2030…
…und die Anzahl und Vielfalt digitaler Vermögenswerte (Digital Assets) ist explodiert.
Explosionsartige Zunahme digitaler Vermögenswerte
Mein Auto hat einen digitalen Zwilling, ein digitales Abbild auf einer (untechnisch gesprochen1) Blockchain. Klar, wenn ich von A nach B gelangen will, tue ich das weiterhin in meinem realen Auto. Sein digitaler Zwilling kommt erst zum Einsatz, wenn ich das Auto beispielsweise ausleihen oder verkaufen will. Aber dazu später.
Nicht nur mein Auto hat einen digitalen Zwilling – die meisten Gegenstände, von Maschinen über Kunstwerke bis zu Häusern, haben nun ein digitales Abbild. Und schon lange bevor diese materiellen, greifbaren Vermögenswerte digitalisiert wurden, geschah dies mit Vermögenswerten, die nicht greifbar sind, wie beispielsweise mit Rechten an Musik oder (Geld-) Forderungen. Kurz: Sämtliche realen Vermögenswerte, ob materiell oder immateriell, existieren heutzutage auch digital, das heisst, sie werden digital auf einer Blockchain dargestellt.
Aber zurück zu meinem Auto. Ich brauche es eigentlich nicht so oft und es bietet sich an, es in der übrigen Zeit meiner Kollegin auszuleihen, die keines hat, statt es nur in der Garage stehen zu lassen. Oder ich verkaufe es ihr gleich ganz. Beides ist heutzutage unglaublich schnell und einfach: ich übermittle meiner Kollegin das digitale Abbild meines Autos auf der Blockchain, entweder für eine bestimmte Zeit oder gleich für immer. Zusammen mit dem entsprechenden Token geht auch das Nutzungsrecht oder eben das Eigentum am Auto auf meine Kollegin über.
Selbstverständlich wickeln wir auch das Gegengeschäft gleich digital über die Blockchain ab: meine Kollegin überträgt mir die vereinbarte Summe für die Nutzung oder den Kauf meines Autos in einer digitalen Währung. Die meisten solcher Alltagsgeschäfte sind ohnehin schon standardisiert, sodass die Abwicklung automatisch erfolgt und die Übertragung des Tokens für das Auto gleichzeitig mit der Übertragung des vereinbarten Preises in digitaler Währung ohne unser Zutun ausgeführt wird.
Damit solche Geschäfte so schnell, einfach und automatisiert abgewickelt werden können, musste auch unser Geld in der Blockchain abgebildet werden. Solche digitalen Währungen sind aus der heutigen Welt nicht mehr wegzudenken. Es existieren verschiedene Formen davon. Die einen wurden von Zentralbanken herausgegeben und repräsentieren gesetzliche Währungen, andere sind an gesetzliche Währungen oder Werte wie Gold etc. gebunden. Und wieder andere sind sogenannte "Native Assets" die keinen realen Vermögenswert und keine gesetzliche Währung repräsentieren, aber von uns zur Begleichung von Schulden eingesetzt bzw. akzeptiert werden. Beispiele für letztere sind Bitcoin (BTC) und Ether (ETH).
Explosionsartige Zunahme von (Personen-) Daten
Aber nicht nur die Zahl und Vielfalt digitaler Vermögenswerte sind explosionsartig gestiegen. Mit ihnen hat sich auch die Erhebung und Bearbeitung von Daten im Allgemeinen und Personendaten im Besonderen vervielfacht. Bereits seit Jahren werden immer mehr Daten produziert, gesammelt und bearbeitet, aber heute im Jahr 2030 haben wir den Wendepunkt der exponentiellen Wachstumskurve erreicht. Die Welt produziert und sammelt mehr Daten an einem einzigen Tag als vor Beginn des 21. Jahrhunderts überhaupt produziert wurden.
Die Quellen von Daten sind breit und vielfältig. Neben der bereits erwähnten Digitalisierung von Vermögenswerten und den damit geschaffenen Möglichkeiten, tragen wir heutzutage Sensoren in allen Formen zur Selbstoptimierung und Selbstüberwachung.
Auch die Versprechen von massgeschneiderten Dienstleistungen veranlassen viele von uns dazu, vermehrt persönliche Daten zu erheben und zu bearbeiten. Immer mehr soziale Interaktionen finden im virtuellen Raum (Virtual Reality) statt, wir chatten und schauen uns Clips von Influencern an. Erfahrungen der realen Welt werden mit einer digitalen Schicht ergänzt (erweiterte Realität, Augmented Reality), die uns zusätzliche Informationen liefert und uns ermöglicht, mit den digitalen Objekten zu interagieren. Es versteht sich von selbst, dass die entsprechenden Geräte dafür die Umgebung erfassen, analysieren und digitalisieren.
Auch Kameras für selbstfahrende Autos filmen und speichern alles und jeden, an dem sie auf der Strasse vorbeikommen. Weiter haben wir viele unserer Geräte, Häuser und sogar ganze Städte mit Sensoren und Kameras ausgestattet und mit dem Internet verbunden (IoT – Internet of Things, Smart Homes und Smart Cities).
Was immer wir tun, wir produzieren Daten
Und diese Daten werden immer wertvoller. Sie geben immer tiefere Einblicke in die Präferenzen von uns Menschen, in emotionale Auslöser, Ängste, Bestrebungen oder Vorurteile. Durch die Bearbeitung der Daten kann Kontrolle und Macht ausgeübt werden, womit die Gefahr von Missbrauch steigt. Dies führt zu einer Abwehrhaltung und viele von uns wollen ihre Daten nicht mehr jedem offenlegen, sondern selbst die Kontrolle behalten und ihre persönlichen Daten – genauso wie auch andere Vermögenswerte – optimal monetarisieren.
Im Jahr 2020
Zurück aus der nicht allzu weit entfernten Zukunft im Jahr 2030, stellt sich natürlich die Frage, was Banken, Versicherungen und Finanzdienstleister heute tun können, um für ein solches Szenario, welches die SFTI-Arbeitsgruppe Future Finance als wahrscheinlichstes bezeichnet, gewappnet zu sein.
Die beiden oben beschriebenen Entwicklungen im Bereich von digitalen Vermögenswerten und Personendaten sind nur zwei von acht Schlüsselthemen, welche im Diskussionspapier von Future Finance beschrieben werden. Aber bereits diese zwei Schlüsselthemen werden die Geschäftsmodelle bzw. Profitabilität, und auch die Reputation vieler bestehender Unternehmen sehr stark beeinflussen. Die Entwicklungen bieten aber auch Chancen und ermöglichen neue Geschäftsmodelle. SFTI hat eine Liste von Aspekten veröffentlicht, welche bei der Bewertung bestehender oder der Entwicklung neuer Geschäftsmodelle zu berücksichtigen sind (vgl. "Future of Financial Institutions – View 2030", S. 59 ff.). Darunter:
"Go beyond simply accumulating user data"
"Build a strong brand and emotional ties" und "Build value propositions around digital privacy", "Become a trusted brand"
"Facilitate and ecourage unbundling"
Und schliesslich frage ich mich als Rechtsanwältin nicht zuletzt auch, wie es um die Gesetzgebung zu diesen Themen in der Schweiz steht.
Was die digitalen Vermögenswerte betrifft, so hat der Bundesrat bereits im Dezember 2018 einen Bericht zu den rechtlichen Rahmenbedingungen für Blockchain und DLT im Finanzsektor publiziert. Nach Durchführung einer Vernehmlassung verabschiedete der Bundesrat am 27. November 2019 dann die Botschaft zur weiteren Verbesserung der Rahmenbedingungen für Blockchain/DLT (vgl. DLT-Vorlage und Webnews), welche derzeit im Parlament beraten wird. Auch wenn durch die neue Gesetzgebung noch nicht die gesamte oben beschriebene Vision von Future Finance 2030 ohne weiteres ermöglicht werden wird, so sind die vorgeschlagenen Änderungen doch ein sehr wichtiger Schritt auf dem Weg dahin.
Auch in Zusammenhang mit der Zunahme der Produktion und Bearbeitung von Personendaten arbeitet der Gesetzgeber aktuell an einer Anpassung der rechtlichen Grundlagen. Das Schweizer Datenschutzgesetz soll den veränderten technologischen und gesellschaftlichen Verhältnissen angepasst werden, wobei vor allem die Transparenz von Datenbearbeitungen verbessert und die Selbstbestimmung der betroffenen Personen über ihre Daten gestärkt werden sollen (vgl. DSG-Revision).
1 Blockchain steht hier sehr vereinfachend für verschiedene Arten von "Distributed Ledger Systemen", welche es ermöglichen, dass mehrere Computer in einem Netzwerk Zustands-Änderungen bzw. -Aktualisierungen nach einem bestimmten Konsensmechanismus validieren und so aufzeichnen können, dass alle über eine eigene, aber identische Kopie dieser Aufzeichnungen verfügen (BIS, Distributed Ledger Technology in Payment, Clearing and Settlement, Februar 2017, S. 2).
Future of Financial Institutions – View 2030
In unserer Serie zur Zukunft der Finanzindustrie berichten sechs Schreiberinnen und Autoren über ihre persönlichen Erfahrungen aus dem Jahr 2030:
Prof. Dr. Cornelia Stengel ist Juristin und Co-Director von Swiss FinTech Innovations (SFTI). Als Rechtsanwältin und Partnerin bei der Kanzlei Kellerhals Carrard Zürich gehören zu ihren bevorzugten Tätigkeitsgebieten das Finanzdienstleistungs-, Finanzmarkt- und Datenschutzrecht.
Ihre besonderen Schwerpunkte: Rechtliche Analyse neuer Produkte, Systeme und Technologien auf dem Finanzmarkt (FinTech), deren vertragsrechtliche Ausgestaltung, Prüfung und Umsetzung von regulatorischen Vorgaben sowie der Aufbau von entsprechenden unternehmensinternen Prozessen.
Cornelia Stengel wirkt an vorderster Front bei der Entwicklung neuer Finanzdienstleistungen mit, insbesondere bei der rechtlichen Ausgestaltung verschiedener elektronischer Zahlungssysteme – sie publiziert auch in diesem Bereich.
Als Co-Director SFTI (Swiss FinTech Innovations), Gastprofessorin und Leiterin FinTank am Insitut für Finanzmanagement FHNW, Geschäftsführerin des Schweizerischen Leasingverbandes (SLV) und als Mitglied der Arbeitsgruppen Datenschutz und Datenpolitik der Economiesuisse, ist Cornelia Stengel zudem auch engagiert im Rahmen von Gesetzgebungsprojekten.